Tuesday, August 20, 2013

PRISM und die Geschichte der Postdemokratie in der westlichen Welt



Nie wieder! übersetzt von Alexander Bock

Auf reddit hat ein Benutzer einen gespenstischen Beitrag zu PRISM
verfasst. Er erinnert mich sehr an die Geschichten, die ich von
meiner Familie aus dem Rumänien vor 1989 kenne. Weil der Autor den
Kommentar gemeinfrei gemacht hat – und ich kaum eloquenter sein
könnte –, habe ich mir mal die Mühe gemacht, ihn ins Deutsche zu
übersetzen. Meine Übersetzung ist ebenfalls, soweit nach deutschem
Recht überhaupt möglich, gemeinfrei.
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Denn wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, was in unseren
Ländern schon einmal passiert ist. Damit es nie wieder passiert.

Ich lebe in einem Land, das allgemein als Diktatur betrachtet wird.
Eines der Länder des arabischen Frühlings. Ich habe einige
Ausgangsperren erlebt und auch gesehen, was eine Art Überwachung wie
PRISM in den USA für Folgen hat. Die Leute, die hier (Anm.: auf
Reddit) über Ausgangssperren reden, wissen nicht, wie sich das
wirklich anfühlt. Es geht nicht darum, dass man hineingehen muss und
die praktischen Folgen davon. Es geht darum, ein Gefühl zu schaffen,
dass einfach jeder und einfach alles dich beobachtet. Ein paar
Punkte:

1) der Zweck dieser staatlichen Überwachung ist es, Staatsfeinde zu
kontrollieren. Nicht Terroristen. Menschen, die sich um Ideen
scharen, die den Status Quo destabilisieren könnten. Das können
religiöse Ideen sein. Das können Gruppen wie Anonymous sein, die sich
besser mit Technik auskennen, als es dem Staat gefällt. Überwachung
macht es leicht zu wissen, wer diese Menschen sind. Es macht es auch
sehr leicht, diese Menschen zu kontrollieren.

Sagen wir du bist ein Student und triffst dich mit ein paar Leuten,
die nicht-artgerechte Tierhaltung stoppen wollen. Also machst du
einen Plan um gegen diese Art der Tierhaltung zu demonstrieren. Du
kommst zur Demo und wow, sie ist riesig. Du hast das nicht erwartet,
du hast doch nur rumgeblödelt. Nun, jetzt ist jeder, der dort war,
verdächtig. Auch wenn du streng genommen das Recht hast, zu
demonstrieren, wirst du von nun an als potentieller Gefährder
betrachtet.

Mit dieser Technik müssen dich die Behörden nicht mehr ins Gefängnis
werfen. Sie können etwas viel unheimlicheres tun. Sie können dir
einfach ein schlüpfriges Foto, dass du mit deinem Partner aufgenommen
hast, zuschicken. Oder dir eine Nachricht schicken, dass sie bei
deinem Vater Steuerhinterziehung nachweisen können. Oder drohen,
deinen Vater den Job verlieren zu lassen. Alles, was du tun musst,
damit das nicht passiert, ist deine Freunde in der Gruppe zu
verpfeifen. Du musst dich jede Woche melden, oder dein Vater verliert
seinen Job. Also tust du es. Du verrätst deine Freunde und obwohl sie
versuchen, unter dem Radar zu bleiben, berichtest du über ihre
Aktivitäten um deinen Vater zu beschützen.

2) sagen wir mal, Nummer 1) geht einfach weiter. Das Land ist jetzt
in einem eigenartigen Zustand. Wirklich eigenartig. Bald entstehen
Bewegungen wie Occupy, nur noch größer diesmal. Die Menschen meinen
es ernst, sie sagen sie wollen einen Staat ohne diese Macht.
Wahrscheinlich sehen sie ein, dass das kein Spiel mehr ist. Du siehst
in den Abendnachrichten, dass Tränengas eingesetzt wurde. Deine
Freunde rufen dich panisch an. Sie erschießen Demonstranten. Oh Gott.
Dafür hast du dich nie gemeldet. Du sagst, scheiß drauf. Mein Vater
verliert vielleicht seinen Job, aber ich werde nicht verantwortlich
dafür sein, dass Menschen sterben. Das geht zu weit. Du weigerst
dich, weiter Bericht zu erstatten. Du hörst einfach auf, zu den
Treffen zu gehen. Du bleibst zu Hause und versucht nicht mehr die
Nachrichten zu schauen. Drei Tage später steht die Polizei vor der
Tür und verhaftet dich. Sie konfiszieren deinen Computer und dein
Handy. Sie verprügeln dich. Niemand kann dir helfen, also schauen sie
alle still zu. Sie wissen, wenn sie etwas sagen, sind sie als
nächstes dran. Das ist in dem Land passiert, in dem ich lebe. Es ist
kein Witz.

3) Es ist schwer zu sagen, wie lange du drin warst. Was du gesehen
hast, war schrecklich. Meistens hast du nur Schreie gehört. Menschen,
die darum flehen, getötet zu werden. Geräusche, die du noch nie
gehört hast. Du, du hattest noch Glück. Du wurdest jeden Tag
getreten, wenn sie schimmelndes Essen nach dir geworfen haben, aber
niemand hat dich mit Stromschocks traktiert. Niemand hat dich
vergewaltigt, oder zumindest erinnerst du dich nicht. Manchmal haben
sie dir Pillen gegeben, aber das war eigentlich der beste Teil des
Tages, weil du dann wenigstens nichts gespürt hast. Du hast Narben
von den Misshandlungen. Dir wird klar, dass Folter im Gefängnis
mittlerweile normal ist. Aber jeder, der Videos oder Bilder der
Folter hochlädt, ist ein “Leaker”. Es wird als Gefährdung der
nationalen Sicherheit betrachtet. Bald schon sieht eine Wunde an
deinem Bein richtig schlimm aus. Du denkst, sie ist entzündet. Es gab
keine Ärzte im Knast. Und es war so voll, wer weiß was in die Wunde
gelangt ist. Du gehst zum Arzt, aber er weigert sich, dich zu
behandeln. Er weiß, die Regierung kann die Krankenakten sehen. Dass
er dich behandelt hat. Ihn nur anzurufen hat schon dafür gesorgt,
dass die örtliche Polizei ihn besucht hat.

Du entscheidest nach Hause zu gehen und deine Eltern zu sehen.
Vielleicht können sie helfen. Das Bein wird immer schlimmer. Du
kommst zu ihrem Haus, aber sie sind nicht da. Du kannst sie nicht
erreichen, egal was du versuchst. Ein Nachbar nimmt dich zur Seite:
sie wurden vor drei Wochen verhaftet und seitdem nicht mehr gesehen.
Du erinnerst dich dunkel daran, ihnen am Telefon von den Protesten
erzählt zu haben. Nicht mal dein kleiner Bruder ist da.

4) Passiert das wirklich? Du schaust die Nachrichten. Sport. Promis.
Als ob nichts los wäre. Was zur Hölle geht vor? Ein Fremder grinst
dich einfältig an, während du Zeitung liest. Du tickst aus. Du
brüllst ihn an: “fick dich, Alter, kannst du nicht sehen, dass ich
eine scheiß Wunde am Bein hab?”

“Sorry,” sagt er, “ich wusste einfach nicht, dass noch jemand die
Zeitung liest.” Es gibt seit Monaten keine echten Journalisten mehr.
Sie sind alle im Gefängnis.

Jeder um dich herum hat Angst. Sie können nicht reden, weil sie nicht
wissen, wer für die Regierung spioniert. Scheiße, du hast mal für die
Regierung spioniert. Vielleicht wollen sie nur ihr Kind durch die
Schule kriegen. Vielleicht wollen sie ihren Job behalten. Vielleicht
sind sie krank und wollen den Arzt besuchen können. Es ist immer ein
einfacher Grund. Gute Menschen tun schlimme Dinge immer aus einfachen
Gründen.

Du willst protestieren. Du willst deine Familie zurück. Du brauchst
Hilfe für dein Bein. Das ist weit mehr, als du je wolltest. Es hat
angefangen, weil du artgerechte Tierhaltung wolltest. Jetzt bist du
praktisch Terrorist, und jeder um dich herum könnte dich
ausspionieren. Du kannst sicher keine Telefon oder E-Mails benutzen.
Du kriegst keinen Job. Du kannst nicht mal mehr Leuten von Angesicht
zu Angesicht trauen. An jeder Ecke sind Menschen mit Waffen. Sie
haben Angst wie du. Sie sollen einfach nicht ihre Jobs verlieren. Sie
wollen nicht als Verräter gebrandmarkt werden.

Das ist alles in meinem Land passiert.



Willst du wissen, warum Revolutionen geschehen? Weil die Dinge Stück
für Stück schlimmer und schlimmer werden. Aber was gerade geschieht,
ist groß. Es ist die Schlüsselzutat. Es erlaubt ihnen alles zu
wissen, was sie wissen müssen, um das oben beschriebene zu erreichen.
Dass sie es tun, ist Beweis dafür, dass sie die Menschen sind, die
Überwachung wie oben beschrieben einsetzen würden. In dem Land, in
dem ich lebe, behaupteten sie auch mal, dass es zum Schutze der
Menschen war. Genauso in der UdSSR. Genauso in der DDR. Es ist immer
die selbe Ausrede, warum man alle überwachen müsse. Aber es war nie
wahr!

Vielleicht wird Obama es nicht tun. Vielleicht wird es der nach ihm
auch nicht tun, oder der nach ihm. Vielleicht geht’s hier nicht um
dich. Vielleicht passiert es in 10 oder 20 Jahren, wenn ein großer
Krieg tobt. Oder nach dem nächsten großen Anschlag. Vielleicht geht’s
um deine Tochter oder deinen Sohn. Wir wissen es noch nicht. Aber was
wir wissen: wir haben jetzt eine Wahl. Sind wir damit einverstanden
oder nicht? Wollen wir diese Macht einräumen oder nicht?

Weißt du, warum mich das so aufregt? Weil ich in den USA groß
geworden bin und dabei jeden Tag das Treue-Gelöbnis aufgesagt habe.
Mir wurde beigebracht, dass die Vereinigten Staaten für “Freiheit und
Gerechtigkeit für alle” standen. Du wirst älter und lernst, dass wir
in diesem Land diesen Satz durch die Verfassung definieren. Sie sagt
uns, was Freiheit und Gerechtigkeit sind. Nun, der Staat hat dieses
Ideal verletzt. Also, wenn er nicht mehr für Freiheit und
Gerechtigkeit steht, wofür steht er dann? Sicherheit?

Stell dir eine Frage: Klingt irgendwas in der Geschichte oben nach
Sicherheit?

Ich habe mir nichts ausgedacht. Diese Dinge sind Menschen passiert,
die ich kenne. Wir dachten, das könnte bei uns nicht passieren. Aber
stell dir vor: Es hat angefangen zu passieren.

Es regt mich auf, wenn Leute sagen “ich habe nichts zu verbergen,
lasst sie alles lesen”. Die, die das sagen, haben keine Ahnung was
sie sich damit einbrocken. Sie sind naiv. Wir müssen auf die Leute in
anderen Ländern hören, die uns klar sagen, dass das ein furchtbares
Zeichen ist. Ein Zeichen, dass es Zeit ist aufzustehen und zu sagen:
nein!
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Menschen wie Ed Snowden riskieren alles, um uns auf diese Tatsachen
aufmerksam zu machen. Lasst uns dafür sorgen, dass seine Warnung
nicht einfach verpufft. PRISM mag aus den USA sein. Doch auch wir in
Europa können dafür etwas tun, denn unsere Regierungen standen ganz
bestimmt nicht ahnungslos daneben, als das Programm angelaufen ist.
Diese Problematik betrifft nicht nur die USA, nicht nur den ganzen
Westen, sondern die ganze Welt.

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